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AGV Mesh-up: Gemeinsame Schnittstelle fuer unterschiedliche fahrerlose Transportsysteme

Fahrerlose Transportsysteme („FTS“ oder englisch „AGV“) spielen in der Intralogistik eine immer wichtigere Rolle. Aber die meisten Hersteller von FTS nutzen zur Steuerung der vollautomatisierten Vehikel unterschiedliche Arten der Kommunikation und Navigation. Das Resultat: Wollen Kunden eine gemischte Flotte verschiedener Hersteller betreiben, gibt es Verständigungsprobleme – und damit auch Kollisionen. Hier setzt die VDA 5050 an: eine neue Schnittstelle, mit der FTS und Steuerungssoftware herstellerübergreifend untereinander kommunizieren können. Die KION Group und ihre Tochtermarke STILL haben das gemeinsame Projekt des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) und des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) von Anfang an begleitet und dabei ihre Expertise eingebracht. Im Interview geben Tobias Zierhut, Senior Vice President KION Mobile Automation, und Florian Kratzer, Key Account Manager Automated Solutions bei KION, eine Einordnung zum Stellenwert und zu den Perspektiven des Projekts.

2021-06-15

Interview

Seit Beginn des Projekts im Jahr 2017 sind KION und gemeinsam mit anderen Herstellern an dem VDA-5050-Projekt beteiligt. Im März dieses Jahres hat die Schnittstelle mit dem sogenannten AGV Mesh-up den ersten Live-Test mit Bravour bestanden. Inwiefern markiert dies einen Meilenstein in der Intralogistik?

Florian Kratzer: Zum ersten Mal ist es uns gelungen, Fahrzeuge von unterschiedlichen Herstellern in einem gemeinsamen Leitsystem im Realbetrieb zu steuern und zu testen. Ein schöner Moment für alle Beteiligten – für uns von STILL, weil auch unser LTX 50 Routenzug dort unterwegs war, und natürlich auch für die KION Group, die die übergeordnete Leitsteuerung beigesteuert hat. Alle sechs Fahrzeuge waren auf einer Fläche in einem gemeinsamen Layout unterwegs. Das hat es zuvor noch nie gegeben, und es ist toll, Teil dieses Projekts zu sein. Und es ist auch ein wichtiger Schritt, FTS noch mehr in die breite Öffentlichkeit zu tragen.

Tobias Zierhut: Ganz genau, es war ein wichtiger Schritt, um einen neuen Standard in Sachen Interoperabilität zu setzen. Und den brauchen wir, um die Zukunft der Intralogistik zu gestalten. Ein weiterer wichtiger Meilenstein lag auch darin, dass sich hier zum ersten Mal verschiedene Hersteller an einen Tisch gesetzt haben, um gemeinsam das Thema Automatisierung im Lager auf ein neues Level zu heben. Indem man die Systeme untereinander kombiniert, steigt der Mehrwert für die Kunden. Mit der VDA-5050-Schnittstelle brauchen sie nur noch ein Managementsystem, und das macht dann auch das Handling deutlich einfacher und effizienter.

„Die Kompetenz, die in Zukunft ausschlaggebend sein wird, liegt in der Software und in der Schnittstellenintelligenz.“

Tobias Zierhut, Senior Vice President KION Mobile Automation

Das Projekt entspricht damit einem KION Unternehmenswert, der das Thema Zusammenarbeit in den Fokus stellt. Läuft man damit als Hersteller von FTS aber nicht auch Gefahr, weniger Fahrzeuge verkaufen zu können?

Tobias Zierhut: Uns ist ja bewusst, dass sich die wenigsten Kunden auf nur einen einzigen Anbieter fokussieren. Genau hier mehr Freiheiten zu ermöglichen, war ja der Hintergrund für das VDA-5050-Projekt. Aber das Fahrzeugportfolio der KION Group-Marken ist breit gefächert, so dass wir für jede Anwendung das richtige Fahrzeug anbieten können und damit jederzeit im Wettbewerb bestehen. Darüber hinaus sind wir überzeugt, dass die Kompetenz, die in Zukunft ausschlaggebend sein wird, in der Software und in der Schnittstellenintelligenz liegt. Diese Kompetenz haben wir im Rahmen des VDMA Projekts mit unserem Traffic Management bewiesen. Und wir wollten das VDA-5050-Projekt zugleich als Chance nutzen, unser Know-how in Sachen Schnittstellenintelligenz noch weiter auszubauen, um hier auch in Zukunft ein Alleinstellungsmerkmal zu haben.

Florian Kratzer: Hinzu kommt, dass wir den Kunden in Zukunft deutliche Mehrwerte bieten können, wenn Sie nicht nur unseren Traffic Manager, sondern auch die dazugehörige Flotte von STILL betreiben. So können wir den Kunden noch mehr Funktionalitäten zur Verfügung stellen. Wir haben als Hersteller und Entwickler die Möglichkeit, beide Komponenten perfekt aufeinander abzustimmen. Im einheitlichen Betrieb sind die Fahrzeuge dann nicht nur auf die Funktionalitäten limitiert, die die VDA 5050 Stand heute bietet. Wir arbeiten stets an Softwareerweiterungen und -verbesserungen, mit der wir weitere Funktionalitäten in unser Traffic Management integrieren können. Und damit wird das KION- bzw. STILL-System noch performanter als die VDA-5050-Schnittstelle.

„Die VDA 5050 ist ein wichtiger Schritt, um Fahrzeugautomatisierung für Kunden zugänglicher zu machen.“

Florian Kratzer, Key Account Manager Automated Solutions bei KION

Welche zusätzlichen Funktionalitäten werden in Zukunft noch möglich sein?

Tobias Zierhut: Interessant ist unter anderem die Kommunikation des Batterieladestandes. Zum Beispiel lassen sich die Batterien mit einem vernetzten Management einfach zu den Zeitpunkten zwischenladen, die im jeweiligen tagesaktuellen Betrieb für die geringsten Unterbrechungen sorgen. Die Fahrzeuge können in einer gemeinsamen, erweiterten Leitsteuerung insgesamt effizienter genutzt werden – einfach, weil alle Faktoren innerhalb einer Lagerumgebung miteinbezogen werden und an einer zentralen Stelle intelligent miteinander verknüpft sind. Auch Predictive Maintenance ist ein wichtiges Thema, das dadurch in greifbare Nähe rückt. Hier gibt es jede Menge Potential, und wir bauen aktuell in diesem wichtigen Feld der Leitsteuerung und Software unsere Expertise immer weiter aus.

Florian Kratzer: Bei STILL gibt es mit „iGo insights“ bereits ein cloudbasiertes Tool für die Auswertung von Flottendaten. Es filtert aus der Fülle der vorhandenen Prozessinformationen Zusammenhänge und leitet konkrete Handlungsempfehlungen ab, wie sich Verfügbarkeit und Leistungsfähigkeit des Systems optimieren lassen. Hierzu nutzt iGo insights auch das Prinzip des maschinellen Lernens. Alle Daten, die das FTS-Leitsystem über einen langen Zeitraum gesammelt hat, werden zur Auswertung in die Cloud hochgeladen und stehen dann auch remote zur Verfügung – das heißt: Kunden können die Performance der Flotten an allen Standorten überwachen, egal, wo sie sich gerade befinden. Die Software erkennt im Datenverlauf Strukturen, berechnet Wahrscheinlichkeiten und ermöglicht ein proaktives Handeln – beispielsweise bei der Terminierung von Wartungen oder Reparaturen. Dies sind natürlich spannende Funktionalitäten, die schon heute echte Mehrwerte für die Kunden bereithalten.

VDA 5050: Der Flughafentower in gemischten Flotten

Die Aufgabe eines Traffic Managements (oder einer Leitsteuerung) in einem Warenlager ist vergleichbar mit dem Tower an einem Flughafen: Dieser koordiniert nicht nur die Starts und Landungen der Flugzeuge sämtlicher Fluglinien und bestimmt, wann wer zu welchem Gate muss, sondern steht auch mit allen anderen Fahrzeugen auf dem Rollfeld (vom Lotsenfahrzeug bis zur Kehrmaschine) im kontinuierlichen Austausch. Wie der Flughafentower spricht auch die Schnittstelle VDA 5050 eine für alle Beteiligten universell verständliche Sprache – und sorgt dafür, dass es nicht zu Missverständnissen oder gar zu Kollisionen kommt. So bietet sie eine wichtige Grundlage dafür, in Produktion und Lager unterschiedliche fahrerlose Transportfahrzeuge verschiedener Hersteller gemeinsam zu betreiben.

Sind bei der VDA 5050 noch weitere Meilensteine zu erwarten?

Tobias Zierhut: Ein Thema, das beim VDMA und VDA als nächste Stufe ebenfalls herstellerübergreifend angegangen werden wird, ist der Bereich Kartografie. Der „Control Tower“, den ja die Schnittstelle beisteuert, ist das eine – aber die Fahrzeuge sind bislang noch nicht in der Lage festzustellen, ob sich an der „Landkarte“ des Lagers etwas geändert hat, und dies dann auch an den Control Tower zu kommunizieren. Im besten Fall sollten sich die Karten automatisch über den Alltag aktualisieren. Und da möchte man mittelfristig zu einem Weg kommen, bei dem jedes Fahrzeug, das in so einem System integriert ist, Karten, Material oder Daten beisteuert. Noch stecken wir da in den Kinderschuhen, aber der Anstoß in diese Richtung ist da.

Florian Kratzer: Doch auch bei KION wird es noch wichtige Weiterentwicklungen der Schnittstelle geben. Wir werden uns dabei auf die Kommunikation zwischen den FTS und den übrigen, manuell gesteuerten Fahrzeugen im Lager fokussieren. Diese werden auch in Zukunft ein ganz wesentlicher Bestandteil von intralogistischen Lösungen bleiben. Wenn unser übergeordnetes Leitsystem auch die Positionen dieser Fahrzeuge erkennt, kann es dem Staplerfahrer dann zum Beispiel rückmelden: Fahr gerade etwas langsamer, um die Ecke kommt schon das FTS angefahren, und dein Auftrag ist nicht so zeitkritisch wie die Palette auf dem FTS, die dringend in der Produktion benötigt wird. So kann die intelligente Verknüpfung in Zukunft verhindern, dass die Produktion zum Stehen kommt, weil irgendwelche Teile fehlen. Eine Vernetzung unseres Staplerleitsystems und der Leitsteuerung der FTS ermöglicht es dann, die Flotten der Gabelstapler von den KION Marken noch intelligenter und effizienter zu betreiben.

Denken Sie, dass die VDA 5050 das Thema Automatisierung kurz- und mittelfristig beschleunigen und für einen größeren Kundenkreis attraktiv machen wird?

Florian Kratzer: Die VDA 5050 Schnittstelle ist eine wichtige Voraussetzung dafür, die Hürde hin zur Automatisierung zu nehmen und für unsere Kunden Planungssicherheit zu gewährleisten. Es geht darum, eine einheitliche Prozesskette mit klarer Schnittstellenbeschreibung und einer übergeordneten Leitsteuerung zu ermöglichen. Und natürlich auch darum, ein System zu schaffen, in dem ein einzelnes Fahrzeug unkompliziert ersetzt werden kann. All dies sind Dinge, die für Unternehmen gerade im Zuge der Digitalisierung und bei ihrem Schritt zur Industrie 4.0 enorm wichtig sind – weil hier eben die konkrete Machbarkeit im Mittelpunkt steht. Insofern ist die Schnittstelle ein weiterer wichtiger Schritt, um Fahrzeugautomatisierung für Kunden zugänglicher zu machen.

AGV Mesh-up: Weltpremiere für die Schnittstelle VDA 5050

Beim AGV Mesh-up, dem ersten Live-Test der VDA 5050 Ende März 2021 in Dortmund, fuhren Fahrzeuge von arculus, DS AUTOMOTION, SAFELOG, Siemens AG, SSI SCHÄFER und STILL erfolgreich zusammen in einem Leitsystem der KION Group. Der Name ist an ein Mesh-WLAN angelehnt, bei dem unterschiedliche Komponenten „ineinandergreifen“ („to mesh“) und als einheitliches WLAN gesehen werden.