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Fahrerlose Transportsysteme auf dem Prüfstand

Fahrerlose und automatisierte Flurförderzeuge sind aus der modernen Intralogistik nicht mehr wegzudenken. Sie erkennen ihre Umwelt in Echtzeit, reagieren, bremsen, führen sogar komplette Kommissionierungen selbstständig durch – und arbeiten höchst effizient. Aber sie kreuzen auch die Wege der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Lager. Damit Mensch und Maschine sich nicht gegenseitig behindern, sondern optimal mit- und nebeneinander arbeiten können, müssen die Fahrzeuge höchste Ansprüche erfüllen und für alle Eventualitäten vorbereitet sein. Um diese Sicherheit zu gewährleisten, gibt es bei der KION Group aufwendige Test- und Validierungsphasen.

2022-06-22

Wer ein modernes Warenlager betritt, wird Zeuge von Szenen, die man vor ein paar Jahren vielleicht noch als Hirngespinst von Science-Fiction-Regisseuren abgetan hätte. Zwischen Kommissionierern und Lagerarbeitern zischen Fahrerlose Transportsysteme hin und her – automatisierte Vehikel, die beispielsweise Pick- und Drop-Vorgänge selbstständig durchführen und für Entlastung des Menschen sorgen. Die als FTS (Fahrerlose Transportsysteme) oder AGV (Automated Guided Vehicles) bezeichneten Fahrzeuge arbeiten eigenständig: Ohne Bediener, ohne im Boden verlegte Schienen – und ohne Pause. Fahrerlose Transportsysteme von Dematic beispielsweise reichen von schmalen Gabel-FTS wie dem FLV 2012/NL bis zu Fahrerlosen Schwerlast-Transportfahrzeugen wie dem FLV 2032/SL, der in der Lage ist, über drei Tonnen Last abzufertigen. Beide FTS navigieren sich selbstständig durch das Warenlager und können in bereits bestehende Lagerstrukturen integriert werden

Fahrerlose Transportsysteme von Dematic beispielsweise reichen von schmalen Gabel-FTS bis zu Fahrerlosen Schwerlast-Transportfahrzeugen.

Ähnliches gilt für die FTS von STILL: Als man da den Fahrassistenten OPX-L 20 S iGo neo vorstellte, war die Botschaft klar: Die effiziente Kommissionierung ist intelligent – das Fahrzeug denkt mit. Der autonome Fahrassistent von STILL setzt auf ein Hybrid-Tracking-System, das seine Umgebung wahrnimmt und darauf reagiert. In einem dynamischen Umfeld, das von schnellen und plötzlichen Bewegungen geprägt ist, ist das reibungslose Funktionieren solcher Systeme alles andere selbstverständlich. Im Gegenteil: Sicherheit und Verlässlichkeit der AGVs sind das Ergebnis eines rigorosen Test- und Validierungsprozesses, bei dem die Software und sämtliche Features auf Herz und Nieren geprüft werden. Im belgischen Antwerpen, unweit der Schelde, ist ein Testzentrum von KION Mobile Automation angesiedelt. Siebenhundert Quadratmeter bieten den Testingenieuren ausreichend Raum, um die AGVs der KION Group für Einsatz und Serienproduktion vorzubereiten. Fabrice Lemoine, Testingenieur vor Ort, sagt: „Es ist eine enorme Herausforderung, im dynamischen Umfeld – das heißt beim Mischbetrieb von Mensch und Maschine – sichere Arbeitsabläufe zu gewährleisten.“ Das erfordert einen langwierigen Prozess, der von zahlreichen Testschleifen geprägt ist. „Dabei bleibt kein Stein auf dem anderen“, so Fabrice: „Am Ende des Tages geht es vor allem darum, den Kunden vor Gefahren und Eventualitäten zu schützen. Deshalb wenden wir unzählige Stunden dafür auf, in unserer Konzept- und Validierungsphase mögliche Fehler und Bugs zu finden.“

Die Test- und Validierungsphasen für Fahrerlose Transportsysteme

Der Testprozess für AGVs ist dabei in mehrere große Phasen unterteilt. Es beginnt schon mit der Konzeptphase – lange vor der ersten Testfahrt eines Prototyps. Im ersten Schritt wird ein „Proof of concept“ erbracht: der Entwurf für ein Fahrerloses Transportsystem sowie die zum Einsatz kommende Software. Bei diesem Schritt wird noch eher theoretisch geprüft, ob das Vorhaben prinzipiell durchführbar ist. Die Arbeit des Designingenieurs wird im Anschluss an Testingenieure übergeben, die bei der zweiten Entwicklungsphase dazu übergehen, Abläufe und Bewegungen praxisnah zu erproben. Der ganzheitliche Blick ist an dieser Stelle noch außen vor: Die entwickelten Features werden zunächst einzeln betrachtet, ehe in der nächsten Validierungsstufe die Systemintegration erfolgt und Software- und Hardware-Komponenten zusammengebracht werden.

„Jetzt wird der Schlüssel umgedreht“, sagt Testingenieur Lemoine schmunzelnd. Was er damit meint: Der Motor des Fahrzeugs wird gestartet. Auf die Theorie und die Computersimulation folgt also der erste Praxistest. „Das ist jedes Mal ein spannender Moment“, sagt Lemoine: „Systemintegration ist in der Regel gleichbedeutend mit einem Realitätscheck. Man versteht erst jetzt, was tatsächlich funktioniert und was nicht.“ Idealerweise ergibt die ganzheitliche Architektur von beiden Komponentenebenen (d.h. Hardware und Software) ein stimmiges und funktionales Bild – doch selbst wenn dies der Fall ist, müssen viele Fragen geklärt werden: Welche Softwarekomponenten harmonieren miteinander, welche nicht? Ist die Funktionalität der Hardware unter allen denkbaren Umständen gewährleistet? Beispiel Sensoren: Haben die wirklich alles im Blick – oder gibt es tote Winkel? „Je nachdem, wie reif das ursprüngliche Design gewesen ist, ist diese Phase mehr oder weniger aufwendig“, so Lemoine. Der Optimismus der Entwickler trifft an dieser Stelle auf den Pragmatismus des Testingenieurs, der bei seiner Problemsuche jedes Testgerät an seine Grenzen bringt. Denn darum geht es ja: Alles auszuloten, was möglich ist, was passieren könnte – und was am Fahrzeug noch verändert werden muss, um Gefahren zu vermeiden und Fehler zu beheben. Den Testingenieuren geht es neben der Sicherheit vor allem um Verlässlichkeit und Lebensdauer. „Nach einer bestimmten Stundenzahl wird immer eine Komponente nachgeben. Das ist bei Flurförderzeugen genauso wie bei Autos“, sagt Lemoine: „Unsere Aufgabe ist es herauszufinden, welches Teil das ist, wo die Belastungsgrenze liegt und wie man das kalkulierbar gestalten kann.“

Fahrerlose Transportsysteme müssen unter Beweis stellen, dass sie effizient im Raum navigieren können.

Dass die Ansprüche und Erwartungen an die Stabilität sämtlicher Komponenten bei den Flurförderzeugen der KION Group traditionell sehr hoch sind, ist bekannt: Die KION Marken Dematic, Linde Material Handling und STILL führen vor jeder Markteinführung eines neuen Produkts rigorose, aufwändige und langwierige Testverfahren durch, um die Fahrzeuge fit für die Praxis machen. Dabei ergänzen sich „klassische“, physische Testverfahren immer mehr mit virtuellen Tests.

Praxisnähe und Fehleranalysen durch Datentransparenz

Bei den AGVs folgt im belgischen Testzentrum auf die Systemintegration nun der nächste Schritt, die sogenannte Prävalidierung: Dabei stehen die jeweiligen branchenspezifischen Sicherheitsanforderungen im Mittelpunkt. Das zu testende Gerät wird einen großen Schritt näher an die Praxis herangeführt: Zum Beispiel werden jetzt Pick- und Drop-Routen einprogrammiert und mehrmals hintereinander im Testcenter durchgeführt – immer mit Blick auf die jeweiligen Sicherheitsbestimmungen, denn selbstverständlich müssen im automatisierten Betrieb sämtliche Richtlinien, Vorgaben und Gesetze eingehalten werden. Um Bedingungen zu erhalten, die dem späteren Kundeneinsatz möglichst nahe kommen, werden unterschiedliche Lagerlayouts aufgebaut, verschiedene Hindernisse platziert und jedes Mal aufs Neue geprüft: Registriert das AGV sie rechtzeitig? Erfassen die Sensoren alle Winkel, funktioniert der Stopp-Mechanismus, weicht das Fahrzeug richtig aus?

Die Prävalidierung geht schließlich fließend in die Validierungsphase über: Das Fahrerlose Transportsystem soll unter Beweis stellen, dass es effizient im Raum navigieren und seine Geschwindigkeit ideal einsetzen kann. In der Praxis sieht das beispielsweise so aus: Im Layout befinden sich mehrere befüllte Paletten, die nach einem bestimmten Protokoll selbstständig von den AGVs abgeholt und zur Zielposition gebracht werden sollen. Das wird unzählige Male wiederholt, mit sich immer wieder ändernden Raumvariablen – bis möglichst alle denkbaren Einsatzumfelder überprüft sind. Bei der Fehleranalyse setzt man im Testzentrum von KION Mobile Automation auf maximale Datentransparenz – und auf konzerneigene Diagnostik-Tools wie beispielsweise AGV Insights von Linde Material Handling. Die Software sammelt Prozessdaten und ermöglicht Cloud Monitoring: Denn die Daten eines AGV erzählen eine Geschichte. Zentrale KPIs wie Reaktionszeit, Verfügbarkeit und Verlässlichkeit sind über das Tool jederzeit einsehbar und die gesamte Bewegungshistorie des AGVs ist vollständig transparent. Damit lassen sich auch die Fahrrouten innerhalb des jeweiligen Lagerlayouts jederzeit überprüfen, nachzeichnen – und natürlich optimieren. Sämtliche Daten werden in der Cloud gespeichert und in Trendanalysen verarbeitet, sodass den Testingenieuren selbst Kleinigkeiten nicht entgehen.

In Verlauf dieser mehrstufigen und aufwendigen Validierung lassen sich also Fehler oder Bugs jedweder Art erkennen – und werden so lange korrigiert, bis keine weiteren Anpassungen mehr nötig und die Sicherheitsanforderungen erfüllt sind. Damit ist die Arbeit der Testingenieure von KION Mobile Automation vorerst abgeschlossen. Vorerst? Vorerst. Denn nachdem ein neues Produkt im Werk produziert wurde, folgt noch eine weitere Testschleife, bevor ein AGV zum Kunden rausgeht. „Wir bei KION gehen lieber auf Nummer sicher“, weiß Testingenieur Lemoine. Nur wenige Unternehmen weltweit seien in der Lage, ein AGV von der Konzeptions- bis zur Implementierungsphase vollständig selbst zu entwickeln, zu produzieren und zu testen. „Ich bin stolz darauf, dass die KION Group eines dieser wenigen Unternehmen ist“, sagt Lemoine.