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Urbane Logistik - Teil 5 der Artikelserie: Erfolgsfaktoren

Der fünfte und letzte Teil unserer Serie zur "Urbanen Logistik"

Die Stadt ist ein wuselndes Chaos – das Warenlager eigentlich auch. Mit Hilfe von Datenanalyse und automatisierter Technik aber wandelt sich das Lager seit Jahren. Was lässt sich daraus für die urbane Logistik lernen?

2021-01-19

Früher waren die zentralen Werkzeuge der Lagerverwaltung ein Karteikasten – und ein riesiger Papierstapel. „Den ganzen Tag sind Menschen durch das Lager gelaufen oder gefahren, mit Papieren in der Hand, und haben die verschiedensten Aufgaben per Zuruf erledigt, oder anhand von Transport- und Kommissionierlisten“, beschreibt es Peter Golz, Senior Director Intralogistics Software Development bei Dematic. Dann kam das Zeitalter der Software. Heute haben Lagerverwalter Daten in Echtzeit zur Verfügung. Manager können nicht nur sehen, was wo verfügbar ist und was ansteht, sie können auch nachvollziehen, welche Fahrzeuge wo entlangfahren.

„Die Digitalisierung hat dafür gesorgt, dass ich mein Lager ganz genau nach gewissen Parametern steuern kann“, sagt Maik Manthey, Senior Vice President Digital Business der KION Group. „Geht es mir um Durchsatz? Um Zeit? Um Kosten? Oder will ich besonders prozessstabil sein?“ Simulationen und Analysen ermöglichen heutzutage, bestimmte Bereiche speziell zu optimieren. Das bedeutet auch, im Zweifelsfall andere Ziele herunterzuschrauben, um ein Hauptziel effizienter durchzusetzen. „Wir sammeln Daten, wir werten Daten aus und leiten daraus Handlungsempfehlungen ab“, sagt Manthey.

„Das Lager ist nicht ordentlich, nur weil dort ein Schild steht“

Aber wie weit ist das für den urbanen Raum nutzbar? Schließlich kommt hier einer der zentralsten Unterschiede zwischen Stadt und Warenlager ins Spiel: Das Lager funktioniert nach vergleichsweise strengen Regeln, die Stadt hingegen ist chaotisch, die Verkehrsteilnehmer kaum vorhersehbar. Klingt einleuchtend, stimmt so allerdings nicht, wirft Maik Manthey ein: „Glauben Sie nicht, dass das Lager immer ordentlich ist, nur weil da ein Schild steht, dass hier keine Bretter abgeladen werden dürfen.“ Auch im Warenlager bewegen sich Menschen, wo sie eigentlich nicht sein sollten, parkt ein Fahrzeug an der falschen Stelle oder steht eine Palette nicht am korrekten Ort. Ein Lager, das möglichst automatisiert und autonom arbeiten will, muss mit solchen Störungen umgehen können, sonst wäre fortlaufend menschlicher Eingriff nötig.

„Es kommt bei der Software weniger darauf an, die Aufgabe zu trainieren, als die Störfälle“, formuliert es Manthey. „Und da braucht es positive Aktionen. Nicht: Ich stoppe – sondern wie umfahre ich die Situation?“ Autonome Lagerfahrzeuge werden deswegen mit Daten gefüttert, die ihnen erlauben, Situationen einzuschätzen. Ein Fahrzeug wie der iGo neo von STILL kann schon heute Paletten, Menschen oder Schilder erkennen und entsprechend handeln. Mithilfe von maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz wird fahrerlosen Transportsystemen beigebracht, vorausschauend zu reagieren. Im Grundsatz sind das dieselben Herausforderungen, vor denen auch Stadtverkehr steht – nämlich Menschen, andere Fahrzeuge und Hindernisse.

Autonome Lagerfahrzeuge können Situationen selbständig einschätzen. Ein Fahrzeug wie der iGo neo von STILL kann Paletten, Menschen oder Schilder erkennen und entsprechend handeln. In der Stadt geht es jedoch weitaus chaotisch zu als im Lager, die Verkehrsteilnehmer sind kaum vorhersehbar.

Mustererkennung durch Simulation

„Automatisierten Fahrzeugen gehört die Zukunft“, bekräftigt auch Golz. Die ersten Vertreter in den Warenlagern orientierten sich noch mit Hilfe von Reflektoren oder festgelegten Routen. „Das wird verschwinden“, ist Golz überzeugt. Zumal auch die Rechenleistung, die für künstliche Intelligenz vonnöten ist, immer günstiger wird. Hier ist aber noch viel mehr denkbar als nur die Steuerung einzelner Fahrzeuge, nämlich die Analyse und Prognose eines kompletten Lagers. Im besten Fall lassen sich mit Hilfe von künstlicher Intelligenz sogar Vorhersagen treffen, was kommende Woche bestellt wird. „Durch Simulationen lassen sich da erstaunliche Muster erkennen“, sagt Golz. Zwar gibt es viele Einkäufe, die Menschen eher spontan machen – ein nicht geringer Teil aber ist eigentlich vorhersehbar. „Es gibt Lebensmittel bei uns privat zu Hause, die sollen niemals zur Neige gehen“, sagt Manthey. „Bei mir ist das zum Beispiel Milch. Wenn mir ein Lieferant ohnehin etwas liefert – was spräche dagegen, dass er dank eines Algorithmus weiß, dass er mir direkt auch noch Milch mitbringt?“

Erkenntnisse, die mit Hilfe von vorausschauender Simulation gewonnen werden, haben bereits jetzt Auswirkungen auf den urbanen Raum. „Lager werden näher an die Menschen rücken, sie werden kleiner“, sagt Golz. Geschäfte, in die Menschen persönlich gehen, sind aus logistischer Sicht durchaus attraktiv, weil der Kunde dann einen der aufwändigsten Bereiche der Intralogistik selbst übernimmt – die Kommissionierung, also das Zusammenstellen des Warenkorbs. Und dort, wo die Menschen lieber „pick & collect“ nutzen, indem sie online einkaufen und anschließend persönlich den Einkaufskorb abholen, übernehmen automatisierte Micro-Fulfillment Center wie jenes von Dematic diese Aufgabe.

In der Stadt werden Lager näher an die Menschen rücken – wie das automatisierte Micro-Fulfillment Center von Dematic.

Ressourcen optimal nutzen

Gleichzeitig helfen solche Voraussagen, die Fahrtzeiten zu verringern und Fahrten effizienter zu machen. „Den Verkehrskollaps, den jede Großstadt morgens erlebt, kriegt man nur in den Griff, wenn man das ganze Verkehrskonzept umstellt“, sagt Golz. Autonome Fahrzeuge wären eine entscheidende Hilfe. Und was spricht eigentlich dagegen, in manchen Branchen die Ankunftszeiten im Büro auf die Verkehrssituation abzustimmen? „Dann weiß man, ich muss spätestens um 10 Uhr im Büro sein und rufe dafür ein autonomes Taxi“, skizziert Golz eine mögliche Zukunftsalternative. „Das wären ganz neue Formen von Individualität.“ Software zur Verkehrsanalyse und die daraus interpretierten Daten machen es theoretisch möglich.

In ähnlicher Weise ließe sich auch hinterfragen, ob sich bestimmte Transportaufgaben innerhalb der Stadt nicht bündeln lassen und als Service angeboten werden, um Leerfahrten zu vermeiden. So würde es zumindest die Logik des Warenlagers anbieten, wo fest definierte Bereiche für Aufgaben zuständig sind. „Das Primärziel jedes Lagers ist ja, die Ressourcen optimal zu nutzen“, sagt Golz. „Mit wenig Investment in Hardware das Beste zu erreichen.“ Am Ende sei das die Hauptaufgabe der umfassenden Lagerverwaltungssysteme, wie die KION Group sie anbietet. Konsequenterweise müssten Städte ähnliche Zielsetzungen fassen, um Herausforderungen wie Verkehrsstaus oder Umweltbelastung zu begegnen.

Verkehrsaufkommen muss entzerrt werden

Zweifellos hat das Lager an dieser Stelle einen ganz besonderen Vorteil: Viele Warenlager lassen sich bei Bedarf mit mehr oder weniger Aufwand umbauen. Die Stadt hingegen muss hier viel langfristiger planen, sie hat mit Akteuren zu tun, die sie nicht beeinflussen kann, und die zum Teil auch gegensätzliche Prioritäten haben – den Einwohnern. Außerdem ist der urbane Raum auch benachteiligt, was Netzverbindung angeht. „GPS ist für eine Ortung von autonomen Fahrzeugen bislang nicht fein genug“, sagt Manthey. Flächendeckendes WLAN ist in vielen Städten aktuell so nicht gegeben.

Trotzdem ist es freilich möglich, Daten aus Navigationssystemen auszutauschen. Auch hier sammeln Informationstechniker im Warenlager schon intensive Erfahrungen. „Staplerleitsysteme entzerren das Verkehrsaufkommen und nutzen dafür auch Heat-Maps – natürlich ließe sich so etwas auch in der Stadt nutzen, um zu planen, dass nicht alle Autos oder LKWs durch die Wilhelmstraße fahren müssen.“ In jüngster Vergangenheit nutzen Städte bereits verstärkt die Möglichkeit, Straßen zu sperren – oder sie blockieren sogar direkt ganze Stadtteile. Die Pariser Rue de Rivoli, lange Zeit zentrale Verkehrsachse der Innenstadt, ist seit dem Jahr 2020 nur noch für Fahrräder nutzbar. In Barcelona dürfen bestimmte Wohnviertel ausschließlich von Anwohnern und Lieferanten mit maximal 10 km/h angefahren werden. Im niederländischen Houten ist das komplette Zentrum für Autos gesperrt, ebenso wie im italienischen Ferrara.

Würden Daten aus Navigationssystemen ausgetauscht, könnten Leitsysteme das Verkehrsaufkommen zur Rush Hour entzerren und dafür auch Heat-Maps nutzen.

„Am Ende geht es immer um Netzwerke“

Schließlich ist da noch die Sache mit dem Energiemanagement: Bei elektrischen Fahrzeugen kommt es darauf an, dass sie zur richtigen Zeit wieder aufgeladen werden. Und an keinem Ort der Welt fahren so viele elektrische Fahrzeuge wie in Warenlagern, die sich mit exakt diesen Fragen beschäftigen: „Wie steuere ich das so, dass abends die gesamte Flotte noch mit genug Energie im Akku nach Hause fährt – und nicht zwei leer sind und die anderen voll?“, beschreibt es Manthey. Dabei geht es nicht nur um Ladepausen, sondern auch darum, wer zu welcher Zeit welche Pakete übernimmt, und wie sich bei Bedarf eine Route optimieren lässt, und damit die Belastung einzelner Flurförderzeuge. „Je mehr und je besser man hier Daten geschickt mit anderen Daten anreichern und veredeln kann, desto besser sind die Ergebnisse“, sagt Manthey.

Es gibt viele Hebel, sowohl in der Intralogistik als auch der urbanen Logistik. „Am Ende geht es immer um Netzwerke“, sagt Peter Golz von Dematic. „Wir denken das Lager als Netzwerk, und verschiedene Lager bilden ebenfalls Netzwerke.“ Die gilt es zu analysieren, zu steuern und zu koordinieren. „Ingenieure zerlegen komplexe Situationen in kleine Teilaufgaben und finden für jede Aufgabe eine kleine Lösung“, sagt Manthey. „Am Ende wird alles zusammengefügt.“ Und dann wäre es fast zweitrangig, ob diese komplexe Situation ein großes Warenlager ist – oder eine Stadt.

Erfahren Sie mehr in unserem aktuellen Podcast

In dieser Episode sprechen wir mit drei Gästen darüber "was die Stadt vom Warenlager lernen kann": Welche Konzepte braucht es für die Letzte Meile? Wohin steuert die Logistik? Wo hilft Technik – und wo vielleicht nicht? Es diskutieren Maik Manthey (KION Group), Brigitte Strathmann (Stadt Osnabrück) und Andreas Löwe (Podcast "Irgendwas mit Logistik").

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