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Wie sieht der Büroalltag einer Gehörlosen aus?

Sarina ist Kundenauftragsbearbeiterin bei STILL. Und gehörlos. Wir haben Sarina Ferreira an ihrem Arbeitsplatz in Hamburg, Deutschland, besucht und sie gefragt: Wie funktioniert die Zusammenarbeit in einem Team, in dem niemand fließend Gebärdensprache spricht? Was machst Du, wenn das Telefon klingelt? Und was bedeutet Inklusion für Dich? Im Diversity and Inclusion Awarness Month setzten wir uns ganz besonders für mehr Respekt und Vielfalt in der Arbeitswelt ein.

2024-06-19

Interviewer: Wir möchten gerne mit Vorurteilen aufräumen. Was ist ein gängiges Vorurteil über Gehörlose, dass dich richtig nervt?

Sarina: Das Wort „Taubstumm“ ist immer noch sehr gängig, und viele verwenden es, weil sie es nicht besser wissen. Einen tauben Menschen als „Taubstumm“ zu bezeichnen, ist beleidigend und verletzend. Mit Stummen verbindet man ja, dass jemand sprachlos ist. Theoretisch kann ich sprechen, meine Stimmorgane sind in Ordnung, aber wenn ich mich selbst nicht höre, kann ich meine Aussprache nicht kontrollieren. Das heißt, ich habe Stimme, ich kann auch lautieren, aber ich mag es nicht, und ich kann nicht garantieren, dass das verständlich ist. Zudem bin ich nicht „stumm“, sondern habe einfach eine andere Muttersprache, die Gebärdensprache. Ich kann also kommunizieren.

Interviewer: Was wünscht du dir, um ein inklusives Büroumfeld zu schaffen?

Sarina: Ich will ganz normal behandelt werden wie du und jeder andere auch. Also, wir arbeiten hier und sind Kollegen, wir sind Mitarbeiter, und es muss eine gute Vertrauensgrundlage geben. Es wäre toll, wenn man sich bemüht und nicht aus Angst vor mir davonläuft. Aber ich brauche keinen Schutzraum, ich brauche keine große Aufmerksamkeit, ich brauche keine Sonderbehandlung. Ich brauche nur jemanden, der sich bemüht und mich mitbedenkt.

Interviewer: Welche Tipps hast du für andere, wie man mit Gehörlosen im Büroumfeld umgehen und was man berücksichtigen sollte?

Ein paar Tipps, wenn du mit Gehörlosen zutun hast: Wenn zum Beispiel jemandem im Büro ein Geburtstagslied gesungen wird, solltest du erklären „Jetzt gibt's ein Geburtstagsständchen“. Oder auch beim Flurfunk. Der Klatsch und Tratsch, der in der Kaffeeküche besprochen wird, ist für eine gehörlose Person spannend mitzubekommen. Fernab von der beruflichen Kommunikation sind diese Dinge wichtig, damit sich die taube Person eingebunden und als Teil der Gruppe fühlt. Auch ich möchte wissen, wohin die nächste Urlaubsreise geht, wer bald heiratet oder gekündigt hat.

Interviewer: Wie machen das die Kolleginnen und Kollegen bei dir im Büro? Tippen sie es zum Beispiel in ihr Handy oder schreiben auf einen Zettel, um mit dir zu kommunizieren? Welchen Weg nutzt ihr hier am häufigsten?

Sarina: Puh, das kommt auf die Situation an. In der Abteilung haben wir verschiedene Aufgaben und manchmal habe ich Fragen zu der Arbeit der anderen. Dann schildere ich mein Problem per E-Mail oder über die Teams und wir kommunizieren darüber. Manchmal sitzen wir auch zusammen vor dem Computer oder Monitor. Dann schreiben wir auch mal auf Papier, um uns zu verständigen. Im Grunde nutzen wir unterschiedliche Kanäle.

Interviewer: Was wünscht zu dir von einem Arbeitgeber?

Sarina: Arbeitgeber sollten möglichst die Barrieren abbauen und die taube Person mitdenken. Zum Beispiel sollten alle Videos untertitelt sein und bei offiziellen Veranstaltungen Dolmetscher anwesend sein. Beispielsweise bei Betriebsversammlungen bei STILL kümmert sich der Betriebsrat um Dolmetscher, damit auch die tauben Kolleginnen und Kollegen an der Präsenzveranstaltung teilnehmen können. Wenn ein Unternehmen sich dazu entscheidet, taube Personen einzustellen, müssen gleich Chancen gewährt werden und die Rahmenbedingungen stimmen.

Für mich heißt Inklusion, dass alle zusammenkommen. Alle gleichwertig und gleichermaßen berücksichtigt sind. Egal welcher Mensch und mit welcher Couleur. Und es gelingt, dass alle partizipieren können, dass die Zusammenarbeit klappt, man sich unterhält und aufeinander zugeht und es keine Barrieren gibt. Ein inklusives Arbeitsumfeld bedeutet für mich ein ganz normales, freies, ungezwungenes und selbstbestimmtes Miteinander.

Sarina Ferreira

Interviewer: Die Gebärdendolmetscher vor Ort hast du schon erwähnt. Welche Hilfsmittel und Technologien erleichtern dir deine tägliche Arbeit zusätzlich?

Sarina: Ja, na klar. Beispielsweise gehört Telefonieren bei den meisten Bürojobs zum Alltag. Aber wie mache ich das als taube Person? Ich nutze ein Tablet mit einem digitalen Dolmetscherservice als App. Während der Bürozeiten rufen meine Ansprechpartner den Dolmetscherservice übers Festnetz an und ich sehe dann auf dem Tablet die Übersetzung des Gesprächs in Gebärdensprache und kann wiederum antworten. Umgekehrt gebe ich dem Dolmetscher-Service eine Telefonnummer und die rufen dann in den Niederlassungen an. So kann ich Telefonate führen.
Mir hilft auch künstliche Intelligenz wie die automatische Übersetzung bei Teams-Calls. In Microsoft Teams kann ich das sogenannte „Transkript“ einschalten und dadurch mitlesen, was die anderen sagen. Ich selbst kommuniziere dann über die Chat-Funktion.
Eine technische Besonderheit ist noch, dass die Arbeitssicherheit eine visuelle Lichtsignalanlage für Feueralarme installiert hat. Das ist wichtig, damit ich im Fall eines Brandes die Signaltöne mitbekomme und selbstständig das Haus verlassen kann. Ansonsten brauche ich nichts Besonderes. Ich kann gut allein vor mich hinarbeiten.

Interviewer: Sarina, ist es unhöflich, wenn ich frage, seit wann du gehörlos bist?

Sarina: Nein, die Frage ist nicht unhöflich. Ich wurde taub geboren, und wir gehen davon aus, dass die Taubheit von meinen Eltern vererbt wurde.

Interviewer: Und wie bist du zu STILL gekommen?

Sarina: Ach Gottchen, das ist ja ein bisschen längere Geschichte. Mein Vater arbeitet schon seit 25 Jahren bei STILL und ist ebenfalls taub. Im Rahmen eines Schüler-Praktikums habe ich hier zehn Wochen Praktikum absolviert und hatte dabei viel Spaß. Nach meinem Abschluss habe ich mich dann für einen Ausbildungsplatz interessiert, und STILL konnte sich das auch vorstellen. Also habe ich mich ganz normal beworben und als Industriekauffrau einen Ausbildungsplatz bekommen.

Interviewer: In welchem Bereich arbeitest du heute als Festangestellte?

Sarina: Ich bin im Kundenauftragszentrum tätig und betreue dabei das Werk Châtellerault und viele Niederlassungen. Also ich bin die Ansprechpartnerin für die Fahrzeuge, die im Werk Châtellerault produziert und an die Kunden verkauft werden. Ich vermittle quasi zwischen den Niederlassungen und der Produktion und unterstütze bei Kundenaufträgen, Fragen und Problemen.

Interviewer: Das heißt, du sprichst auch französisch?

Sarina: Nein, so gar nicht. Weder in Gebärdensprache noch schriftlich. Wir kommunizieren ausschließlich in schriftlichem Englisch.

Interviewer: Du hast erwähnt, dass dein Vater auch hier arbeitet. Gibt es hier im Werk Hamburg noch weitere Gehörlose, von denen zu weißt?

Sarina: Ich meine, es sind derzeit fünf oder sechs Gehörlose. Es waren mal über zehn, davon sind einige in Rente gegangen oder haben den Arbeitgeber gewechselt.

Interviewer: Wie sieht ein typischer Arbeitsalltag für Dich aus?

Sarina: Der ist genauso wie dein Arbeitsalltag. Ich mache meinen Job, habe tägliche Aufgaben, die ich erledigen muss, und dann nehme ich an Meetings teil. Ein Unterschied ist vielleicht, dass ich regelmäßig Dolmetscher dabei habe, insbesondere zu den Meetings und den Meetingzeiten, die mich unterstützen.

Ich arbeite sehr selbstständig und mir wird vertraut. Das ist eine Basis, auf der ich gut arbeiten kann. Und ich mag es auf Englisch schriftlich kommunizieren, das bereichert mich.

Sarina Ferreira

Interviewer: Was war ein besonderer Erfolg oder Schlüsselmoment während deiner bisherigen Karriere?

Sarina: Ich habe mich in meiner Ausbildungszeit bei der Jungendausbildungs-Vertretung zur Wahl aufstellen lassen. Meine Chancen habe ich als gering eingeschätzt und war total begeistert, als ich dann gewählt wurde. Zwei Jahre lang habe ich das gemacht. Ich habe regelmäßig Meetings besucht, viele verschiedene Aufgaben übernommen, war gleichberechtigt und sehr dankbar, weil wir immer gut zusammengearbeitet haben. Jede taube Person hat schon Erfahrungen mit Ausgrenzung gemacht, wird behandelt, als wäre sie weniger gebildet oder ausgeschlossen. Hier war es das Gegenteil. Ich zählte dazu, wurde auf Augenhöhe behandelt und konnte mein Ehrenamt super wahrnehmen. Das war für mich eine sehr schöne Erfahrung.

Interviewer: Was hast du in der JAV-Zeit durchgesetzt?

Sarina: Wir haben in der Zeit viele Dinge für die Azubis umgesetzt. Ein Beispiel, das auch zu unserem Gesprächsthema heute passt: Wir haben eine Respekt-Kampagne geplant. Meine Aufgabe war es, gemeinsam mit einem anderen Azubi, einen Workshop zum Thema Diversitäten in der Ausbildung und Diskriminierungen bei Azubis zu organisieren und durchzuführen. Das Feedback der anderen nach der Veranstaltung war sehr positiv, darüber habe ich mich gefreut.

Interviewer: Welche Träume oder Ziele hast du noch?

Sarina: Ich würde gerne Karriere machen. Aber wie die aussieht und welcher Weg das sein wird, das weiß ich noch nicht. Da bin ich offen und lass es auf mich zukommen.